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Er fragt mich, warum ich, als Unternehmensberater, denn vier Wochen in einem Behindertenheim arbeiten wolle. Selbstverständlich bin ich auf diese Frage vorbereitet, schliesslich habe ich beim Schreiben des Briefes, den ich ihm im Vorfeld habe zukommen lassen, über meine Motivation nachgedacht. Ich erzähle ihm von meiner gewohnten Umgebung, den Herausforderungen in der so genannt gesunden Welt und versuche ihm meinen Wunsch, mich in einer anderen Umgebung zu exponieren und Erfahrung mit Menschen mit ganz anderen Ausgangslagen zu sammeln, darzulegen.Aussichten
Dieses Gespräch findet an einem Dienstagnachmittag statt. Die Luft ist warm und gesättigt mit Feuchtigkeit. Ich sitze dem Leiter der Behinderten-Institution gegenüber und höre im Hintergrund die kleine Kaffeemaschine brummen.
Er selbst komme, wie er mir erzählt, aus der Industrie und habe sich dann später für eine Führungsaufgabe in einer sozialen Institution entschieden. Er scheint meine Beweggründe nachvollziehen zu können, doch habe ich den Eindruck, dass er unsicher ist, was er mir zumuten kann. Wir diskutieren verschiedene Möglichkeiten meines Einsatzes, er macht sich Notizen und verspricht mir, die nötigen Abklärungen in die Wege zu leiten.
Anschliessend bietet er mir an, mit ihm einen Rundgang durch die geschützten Werkstätten und die Beschäftigung, dort wo die schwerer Behinderten ihren Tag verbringen, zu machen. Selbstverständlich nehme ich an und wir begeben uns zu dem Gebäude, in dem sich die Ateliers der Beschäftigung befinden. Behinderte begegnen uns und grüssen, manchmal vielleicht etwas unbeholfen, aber durchaus freundlich.
Wir besuchen die verschiedenen Ateliers, sprechen mit den Betreuerinnen und schauen, was die Behinderten so tun.
Plötzlich stürzt ein Bursche, einen halben Kopf grösser als ich, auf mich zu, schaut mich kurz kritisch durch seine Brille an, und greift unvermittelt an mein linkes Handgelenk. Mein Begleiter reagiert sofort und mahnt ihn mit festem Griff um sein Handgelenk und klaren Worten, dass er das nicht tun solle. Nach kurzem Zögern lässt er von mir ab und wendet sich wieder einer anderen Beschäftigung zu. Dem letzten Besucher habe er die Uhr vom Handgelenk gerissen und sich dann köstlich darüber amüsiert, wie sich das Opfer über die Attacke aufgeregt hätte, erklärt mir mein Begleiter.
Schwierig vorzustellen, aber zwei Monate später werde ich mit diesem Burschen am Mittagstisch sitzen.
Nach dem Rundgang verabschiede ich mich und mache mich auf den Heimweg. Zwiespältige Gefühle kommen in mir hoch. Ist es wirklich das, was ich gesucht habe? Wie viele Überraschungen gibt es dort noch? Kann ich da wirklich etwas für mich persönlich profitieren oder muss ich mich die ganze Zeit nur auf das «Überleben» konzentrieren?

 

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